
„Ich habe mich mit meiner Schwerbehinderung beworben“
Im Job über die chronische Erkrankung sprechen – oder lieber schweigen? Sarah, Mitte 40, arbeitet im öffentlichen Dienst und hat es getan. Doch das war nicht immer so. Im Interview spricht sie darüber, warum sie es dann doch gesagt hat, was ihr dabei geholfen hat und wie Arbeitgeber chronisch Erkrankte gut unterstützen können.
Chronisch erkrankt im Job: Offenheit oder Tabu?
Über chronische Erkrankungen wird im Arbeitskontext selten gesprochen, obwohl es sehr viele Menschen betrifft. Warum denken Sie, ist das so?
Sarah: Wir leben in einer Gesellschaft, die eine lange Erwerbstätigkeit vorsieht. Ganz klassisch müssten wir mindestens 35 Jahre, besser 45 Jahre arbeiten, um ausreichende Rentenansprüche zu erwerben. Aber das schaffe ich nur, wenn ich leistungsfähig bleibe. Und Leistungsfähigkeit wird hauptsächlich mit körperlicher Leistungsfähigkeit assoziiert, weniger mit Kompetenzen. Jede Form von chronischer Erkrankung bringt erstmal die Sorge mit sich, nicht mehr so belastbar zu sein.
Zudem ist über chronische Erkrankungen noch sehr wenig Wissen vorhanden, dafür umso mehr Vorurteile.
Welches Vorurteil zum Beispiel?
Die meisten Leute denken in den Kategorien „gesund“ und „krank“. Eine chronische Erkrankung ist aber etwas sehr Fließendes. Ich würde chronische Erkrankungen grundsätzlich unterteilen in Erkrankungen, die sich ganz gut in den Alltag integrieren lassen, und solche, bei denen es schwerer ist. Außerdem gibt es bei jeder chronischen Erkrankung gute und schlechte Phasen, sodass auch die Tagesform unterschiedlich sein kann.
Ich habe eine Mischung aus verschiedenen chronischen Erkrankungen. Manche beeinträchtigen mich mal mehr, mal weniger. Ich bin Migränepatientin und habe infolge der Therapien einer Krebserkrankung einige chronische Beeinträchtigungen bekommen. Aufgrund dieser wurde bei mir ein sogenannter Grad der Behinderung (Schwerbehinderung) anerkannt.
Haben Sie Ihre Erkrankung am Arbeitsplatz angesprochen?
Ich habe mich bewusst mit meiner Schwerbehinderung auf meinen aktuellen Job beworben, weil ich das auch als ein politisches Thema verstehe. Das bedeutet aber auch, dass ich die „Bürde“ auf mich nehme, oft zu diesem Thema von Kolleg:innen angesprochen zu werden und die „Erklärbärin“ zu sein. Zudem wollte ich die mit der Schwerbehinderung verbundenen Rechte behalten. Dazu gehören zum Beispiel fünf zusätzliche Urlaubstage und ein besonderer Kündigungsschutz.
Ich kann aber gut verstehen, dass viele sich genau überlegen, ob und wann sie ihre Erkrankung im Bewerbungsprozess oder am neuen Arbeitsplatz ansprechen. Man weiß vorher schließlich nie genau, wie die Unternehmenskultur wirklich ist.
Der Gesetzgeber hat für chronisch erkrankte Menschen Regelungen geschaffen, durch die sie unter bestimmten Voraussetzungen einen sozialrechtlichen Anspruch auf den Schwerbehindertenstatus erwerben können. Ab einem bestimmten Grad der Behinderung bedeutet das fünf zusätzliche Urlaubstage, Steuererleichterungen und einen besseren Kündigungsschutz.
Wie kann ich herausfinden, ob ein Unternehmen offen mit dem Thema umgeht?
Ich würde mir die Unternehmens-Website anschauen. Taucht das Thema dort auf? Gibt es Hinweise darauf, dass sich das Unternehmen aktiv mit Inklusion beschäftigt? Welche Gesundheitsangebote gibt es? So bekomme ich zumindest ein erstes Gefühl dafür, ob ich meine Erkrankung im Job ansprechen kann oder lieber vorsichtig bin.
Würden Sie sich wünschen, dass Unternehmen das Thema offener kommunizieren?
Absolut! Es ist eigentlich die Verantwortung des Unternehmens, ein Klima zu schaffen, in dem sich chronisch Erkrankte sicher fühlen. In vielen Stellenanzeigen steht zwar, dass Bewerbungen von Menschen mit Schwerbehinderung willkommen sind – aber das ist oft nur Ausdruck der gesetzlichen Pflicht, Schwerbehinderte bei gleicher Qualifikation bevorzugt einzustellen.
Welches Angebot von Seiten des Arbeitgebers ist hilfreich?
Es ist zum Beispiel enorm hilfreich, wenn klar ist, dass Gesundheit ein wichtiges Thema im Unternehmen ist und es klare Regelungen für alle gibt. Ich muss beispielsweise täglich ein Medikament nach dem Essen einnehmen und brauche diese Mahlzeit. Wenn gesetzlich vorgeschriebene Pausen in der Organisation auch täglich von allen genommen werden, muss ich als Einzelperson nicht auf eine feste Mittagspause bestehen. Auch wenn klar geregelt ist, wie mit krankheitsbedingten Abwesenheiten umgegangen wird und wer mich wie vertritt, ist es für mich viel einfacher, das auf meine individuelle Situation anzuwenden, ohne ständig erklären zu müssen, warum ich vielleicht häufiger Arzttermine oder krankheitsbedingte Abwesenheiten habe.
Chronisch erkrankte Menschen können unter bestimmten Voraussetzungen einen Pflegegrad erhalten, wenn sie in ihrer Selbstständigkeit dauerhaft erheblich eingeschränkt sind. Je nach Einstufung haben sie Anspruch auf Leistungen wie Pflegegeld, Unterstützung im Alltag und Entlastung für Angehörige.
Sie haben sich offen mit Ihrer Schwerbehinderung beworben. Wusste ihr Team von Anfang an Bescheid über Ihre chronische Erkrankung?
Nein, die Schwerbehinderung ist eine vertrauliche Personalangelegenheit. Wenn ich sie in meinen Bewerbungsunterlagen angebe, weiß die Personalabteilung, dass mir mit meinem Grad der Behinderung beispielsweise fünf zusätzliche Urlaubstage zustehen. Aber das bedeutet nicht automatisch, dass meine Führungskraft oder das Team davon erfährt. Das ist eine zweite Entscheidung: Spreche ich in meinem Arbeitsumfeld offen über meine Erkrankung?
Haben Sie es später angesprochen?
Ja, ich sage es ganz offen. Die Begleiterscheinungen meiner Therapien sind mir nicht anzusehen, sind aber chronisch. Für mich ist es zum Beispiel wichtig, dass ich regelmäßig esse und Pausen mache, und aufgrund der OPs kann ich nicht schwer heben.
Wie spreche ich meine chronische Erkrankung im Job an?
Was würden Sie anderen raten, die ihre Erkrankung am Arbeitsplatz gerne ansprechen würden?
Ich würde bei mir selbst anfangen: Was brauche ich wirklich, um gut arbeiten zu können? Es hilft, sich den idealen Arbeitstag vorzustellen – aber realistisch. Also nicht „die Sonne scheint, mein Kind hat heute morgen nicht gemotzt und alles läuft perfekt“, sondern konkret: Was unterstützt mich dabei, produktiv und möglichst gesundheitsfördernd durch den Arbeitsalltag zu kommen?
Gibt es Ansprechpartner:innen im Unternehmen, die unterstützen können?
Viele Unternehmen haben Personalräte, Betriebsräte und/oder Ansprechpartner:innen für Gesundheit. Diese sind in der Regel zur Vertraulichkeit verpflichtet und können beraten, welche Unterstützung möglich ist. Zusätzlich kann es helfen, sich mit Kolleg:innen zu vernetzen und Verbündete im Team zu haben, die das Thema mittragen und auch daran denken, zwischendurch im Meeting eine Pause zu machen, damit sich alle bewegen können.
Für Menschen mit Büroalltag ist das natürlich leichter als für die Kassiererin, den Würstchenverkäufer oder die Reinigungskraft. Das würde ich mir wünschen: Dass nicht nur Leute in hochbezahlten Jobs gesund arbeiten können, sondern dass für alle gute Lösungen gefunden werden.
Wo finde ich gute Tipps außerhalb des Unternehmens?
Selbsthilfegruppen – auch online oder in Social Media – sind super. Andere Betroffene haben oft gute Tipps und Lösungen, auf die man selbst vielleicht gar nicht gekommen wäre.
Welche Stärken bringen chronisch Erkrankte ins Team?
Viele sehen zuerst Herausforderungen, wenn sie an chronisch erkrankte Mitarbeiter:innen denken. Was kann ein chronisch erkrankter Mitarbeiter, was andere Kollegen nicht können?
Ich kann natürlich nur aus meiner Erfahrung sprechen. Menschen, die mit andauernden Herausforderungen leben und berufstätig sind – sei es eine chronische Erkrankung oder auch familiäre Verantwortung – sind oft extrem anpassungsfähig. Sie haben gelernt, mit Krisen umzugehen und flexibel ihre Ressourcen einzusetzen, und sind gut darin, Lösungen für unerwartete Probleme zu finden. Das macht sie oft kreativer und resilienter.
Und wir sind eine gute Erinnerung daran, dass alle gesund arbeiten wollen und was es dafür braucht. Wenn ein Unternehmen ein Arbeitsumfeld schafft, in dem gesunde Arbeitsweisen für alle gefördert werden, profitieren auch alle Mitarbeiter:innen einschließlich der Führungskräfte davon.
Wer profitiert noch?
Wenn ich meine Pausen einhalte oder regelmäßig Rückenübungen mache, erinnern sich meine Kolleg:innen vielleicht auch eher daran, auf ihre eigene Gesundheit zu achten – und bleiben länger gesund
Spannender Punkt – gelebtes Gesundheitsmanagement im Team!
Ich finde es super, dass ihr euch dem Thema annehmt, weil es nicht mehr wegzudenken ist. Unsere Gesellschaft wird älter, chronische Erkrankungen nehmen zu – und trotzdem ist Erwerbsarbeit für viele von uns eine wichtige Säule im Leben. Es geht nicht darum, ob Menschen mit chronischen Erkrankungen arbeiten können, sondern darum, wie Arbeitgeber ein Umfeld schaffen, in dem das gut möglich ist. Wenn das gegeben ist, müssen wir uns nicht ständig rechtfertigen, sondern können einfach unseren Job machen – so wie alle anderen auch.